
Schulabsentismus als Einladung zum Umdenken- zwischen Weichspüler und Eigenverantwortung
Schulabsentismus bedeutet, dem Unterricht fernzubleiben. Das ist heute immer mehr verbreitet. Wie können Eltern ihre Kinder / Jugendlichen dabei unterstützen, mit Herausforderungen klar zu kommen? Dieser Beitrag ist ein Plädoyer für den Mittelweg: Verständnis zeigen, aber auch fordern. Nähe geben, aber nicht alles abnehmen.
Immer mehr Kinder und Jugendliche bleiben der Schule fern. Oft steht nicht Trotz dahinter, sondern innere Erschöpfung, fehlende Perspektive oder weil ihnen schlicht die Kraft fehlt, sich dem Alltag zu stellen.
Schulabsentismus ist heute selten ein Ausdruck von Rebellion, sondern vielmehr ein stiller Hilferuf:
Wie kann ich in einer Welt bestehen, in der ich alles habe, aber wenig beitragen darf?
In unserer Zeit pendelt Erziehung oft zwischen Überforderung und Verwöhnung, zwischen dem strengen „Früher“ und dem überfürsorglichen „Heute“.
Doch Kinder und Jugendliche brauchen heute etwas anderes: emotional präsente Erwachsene, die sie ernst nehmen und ihnen gleichzeitig zutrauen, Verantwortung zu übernehmen.
Damit Kinder und Jugendliche wieder erleben können: „Ich werde gebraucht und ich kann etwas bewirken.“
In der Schule sind sie Teil einer Klasse. Sie stehen nicht die ganze Zeit im Mittelpunkt. Auch geht es nicht nur darum, ihre Bedürfnisse möglichst schnell zu befriedigen.
Es gibt viele Gelegenheiten, Frustrationstoleranz zu entwickeln und in der Gruppe seinen Platz zu finden und für die Gemeinschaft etwas beizutragen.
Viele Kinder brauchen heute zu viel Überwindung, um sich diesen Herausforderungen in der Schule zu stellen. Sie kommen mit den vielen Reizen nicht klar, leiden und verweigern sich.
Oft ist es zu Hause deutlich bequemer. Faszinierende digitale Games locken und verstärken den Wunsch, zu Hause zu bleiben.
Kinder werden krank, sind müde oder zeigen Körpersymptome wie Bauch-, Kopf- und andere Schmerzen.
Für Eltern wird es schwierig. Ein krankes Kind braucht in der Regel Verständnis und Fürsorge. Schulabsentismus kann ein Hinweis darauf sein, dass Kinder / Jugendliche mehr oder etwas anderes brauchen.
Wie stärkt man das Kind altersgerecht, frühzeitig und stetig?
Eltern wollen das Beste für die geliebten Kinder. Sie sollen sich wohlfühlen, gesund bleiben und ein möglichst gutes Leben haben.
Manchmal kippt diese Liebe unbemerkt in eine andere Richtung. Die Kinder werden verschont. Das führt sie in eine Passivität. Wenn ihnen alles abgenommen wird, bleibt kein Raum mehr, um selbst zu wachsen. Ohne Erwartungen, entsteht keine Antriebskraft.
Jugendliche, welche nicht regelmässig gefordert werden, sind in ihrer natürlichen Entwicklung gehemmt. Sie fühlen sich entwertet, obwohl das niemand beabsichtigt.
Das Paradox unserer Zeit
Noch nie war das Leben für Jugendliche so bequem wie heute.
Das Essen steht bereit. Die Kleider werden ins Haus geliefert. Die Wäsche wird in Maschinen gewaschen und getrocknet.
Kinder und Jugendliche fühlen sich dadurch sicher, aber nicht mehr lebendig.
Viele Eltern trauen sich nicht, sie herauszufordern. Sie gestatten ihnen, sich zurückzuziehen und zu gamen. Das geschieht oft aus der Angst heraus, etwas falsch zu machen, aus Rücksicht oder aus Unsicherheit.
So wird aus gut gemeinter Fürsorge eine schleichende Verwahrlosung.
Sie hinterlässt keine blauen Flecken, aber es entsteht auch keine Kraft, um sich zu entwickeln.
Feinfühligkeit ist eine Stärke, die achtsam begleitet werden sollte.
Viele Jugendliche sind sensibler als frühere Generationen. Sie spüren und reflektieren viel und nehmen ihren Körper ernst. Das ist eine wichtige Ausgangslage, um zu entscheiden, wo der eigene Weg hinführen soll.
Doch wer nur fühlt und nicht handelt, bleibt stecken.
Wir sollten sie darin unterstützen, ihr Fühlen und ihre Intuition einzusetzen, um in die Selbstverantwortung zu kommen.
Es ist kein Widerspruch, liebevoll zu sein und etwas zu erwarten.
Im Gegenteil: Genau diese Kombination ist der Schlüssel.
Emotionale Präsenz – nicht nur Versorgung
Viele Eltern glauben, sie seien „da“ für ihre Kinder, wenn sie diese versorgen. Sie kochen, fahren, organisieren, erinnern und räumen hinterher. Nebst der eigenen Berufstätigkeit ist das für viele schon sehr anspruchsvoll und wird gerade noch bewältigt.
Dabei ist die emotionale Präsenz sehr elementar. Das heisst, wirklich im Kontakt zu sein und echtes Interesse zu zeigen.
Sätze wie: «Hast du das gemacht?» oder «Stelle um 22 Uhr das Handy aus!», ohne echten Dialog, verpufft. Es ist wichtig, etwas zu verlangen und zu schauen, wie es erledigt wird. Das anschliessende darüber Sprechen, schafft Verbindung und die Eltern lenken dadurch. Kinder und Jugendliche spüren sehr genau, mit welcher Haltung ihre Eltern etwas sagen und ob es ernst gemeint ist. Entsprechend passen sie ihr Verhalten an.
Folgende Fragen zeigen echtes Interesse und eine lösungsorientierte Haltung. Sie unterstützen Veränderungen in die gewünschte Richtung: «Wie geht’s dir damit?» «Was brauchst du, damit du das hinbekommst?» «Was könntest du andres machen, als beim letzten Mal?» «Was hat dir geholfen, als es geklappt hat vor 3 Tagen?»
Ist die gemeinsame Ausrichtung positiv, liegt der Fokus auf dem Gelingen. Wenn etwas (noch) nicht geklappt hat, stellen wir fest, warum es (noch) nicht gelungen ist und versuchen andere Herangehensweisen zu finden und auszuprobieren.
Das findet im gemeinsamen Austausch statt. Es muss Konsequenzen geben und sollte möglichst ersichtlich sein, dass diese die Folge des Versäumnisses ist. Eine losgelöste Strafe, die nichts mit der Aufgabe zu tun hat, macht wenig Sinn.
Hier einige praktische Beispiele:
• Wenn der Jugendliche den Bus verpasst, muss er / sie mit dem Fahrrad fahren und wird nicht mit dem Auto hingebracht.
• Sollte der Jugendliche nicht zum abgemachten Zeitpunkt bereit sein, kommt er mit öffentlichen Verkehrsmitteln nach.
• Vor dem Essen wird das Kind / der Jugendliche gefragt, ob er / sie lieber bei der Zubereitung oder beim Aufräumen helfen möchte. Sie können auch bei der Menu Planung oder beim Einkaufen unterstützen.
Wichtig ist, dass erfahrbar wird, dass Essen nicht aus Zauberhand auf dem Tisch steht.
Durch Wahlmöglichkeiten fühlen sich Kinder / Jugendliche autonomer. Keine Beteiligung am gemeinschaftlichen Leben, ist keine Option.
Im Gespräch wird verhandelt, was zu welchem Zeitpunkt möglich ist. Diese Reibung schafft Wärme mit dem Ziel, gemeinsam verbindliche Abmachungen zu finden. Es hilft auch, bereits im Voraus darüber zu sprechen, was geschieht, wenn die Abmachung einmal nicht eingehalten wird.
Das Kind soll immer spüren, dass die Erwachsenen daran glauben, dass es das hinbekommt und sich mit ihm auch über kleine Erfolge freuen.
Die Entscheidung, ob sie lieber die Abmachungen einhalten oder den Mehraufwand in Kauf nehmen, sollte ebenfalls in der Verantwortung der Jugendlichen liegen.
Sehr schnell merken die Kinder und Jugendlichen, dass es sich lohnt, Abmachungen einzuhalten. Denn sie haben nur dadurch die Vorteile und Annehmlichkeiten.
Wenn wir als Eltern dabei klar und zugewandt bleiben, können in Diskussionen Lösungen für neue Abmachungen in zukünftigen Situationen entstehen. Das kann zwar auch anstrengend sein, stärkt aber die Selbstwirksamkeit der Kinder und Jugendlichen längerfristig.
Es ist dabei sehr wichtig, dass die Eltern an bereits abgemachten Konsequenzen festhalten und sie die Verhandlungen nur für zukünftige Situationen führen. Denn endlose Diskussionen ohne Lösungen kosten unnötig Zeit und Energie.
Liebe heisst nicht, alles abzunehmen
Viele Eltern wollen ihren Kindern verständlicherweise Gutes tun. Oft kommt es dabei zu einer fatalen Verwechslung: Wer emotional nicht gut erreichbar ist oder selbst erschöpft ist, versucht die Lücke durch „Tun“ zu kompensieren.
Eltern übernehmen Aufgaben, erleichtern Wege und machen das Leben der Jungen dadurch bequemer. Sie sind sich vermutlich nicht bewusst, dass genau das ihre Kinder langfristig schwächt.
Denn die unausgesprochene Botschaft dahinter lautet: «Du schaffst das nicht allein.»
Genau das verinnerlichen viele Jugendliche, was zu Vermeidungsverhalten und Schulabsentismus führen kann.
Stark wird ein Kind nicht, wenn es nichts tun muss, sondern wenn es erlebt, wie es selbst etwas zustande bringt.
Es deckt den Tisch, obwohl es keine Lust hat und übernimmt Verantwortung, obwohl es lieber zocken würde. So erfährt es täglich, wie es etwas beitragen kann und fühlt sich wertvoll.
Nehmen wir jungen Menschen Aufgaben ab, welche sie selbst bewältigen können, sind das verpasste Chancen, um sich selbst als fähig zu erleben.
Die Frustrationstoleranz zu erweitern, ist wie ein Muskeltraining. Es ist dafür regelmässiges Training nötig. Dass Eltern in dieser Aufbauphase emotional da sind und die Kinder und Jugendlichen ihre Liebe spüren lassen, unterstützt sie dabei sehr.
Gestärkt mit dieser Fähigkeit, können sie mit zunehmendem Alter ihre eigenen Ziele erreichen und ein selbstverantwortliches Leben führen.
Geben macht stark – nicht nur empfangen
Ein weiterer Aspekt, der heute oft fehlt: Jugendliche erleben sich fast ausschliesslich als Empfangende.
Sie bekommen Aufmerksamkeit, Versorgung, Unterstützung, aber sie haben selten Gelegenheit, selbst etwas zu geben. Das schwächt ihr Selbstvertrauen.
Wer nicht gebraucht wird, spürt auch nicht, wie erfüllend es sein kann, andere zu unterstützen.
Die wenigsten Jugendlichen helfen zu Hause gerne freiwillig. Ausserhalb der Familie oder wenn die Kinder noch jünger sind, merken sie dabei, wie sie für andere wichtig sind.
«Ich mache für jemanden einen Unterschied!» Das lässt einen wachsen. Dies geschieht nicht in erster Linie durch das Lob von aussen, sondern vielmehr durch die eigene Sinngebung.
Deshalb ist altersdurchmischtes Lernen, gemeinsames Tun in Familien oder Verantwortung zu übernehmen in kleinen Alltagsaufgaben so wertvoll, für die persönliche Entwicklung.
In der Grossfamilie war das selbstverständlich: Die Älteren sorgten für die Jüngeren und lernten dabei selbst, was es heisst, Verantwortung zu übernehmen.
Heute fehlt oft diese natürliche Rollendynamik. Kinder und Jugendliche stecken über Jahre hinweg in der Rolle der „Empfangenden“.
Und das führt dazu, dass sie sich selbst nicht als gebend, nicht als wirksam, nicht als wichtig für andere erleben können.
Dabei ist genau das ein Schlüssel zur Selbstwirksamkeit:
«Ich kann für mich selbst sorgen!» und «Ich bin für andere wertvoll.»Was Eltern tun können, ohne hart zu sein:
Jugendliche brauchen: Aufgaben, Aufmerksamkeit, Verständnis und Erlebnisse, in denen sie selbst merken: »Ich kann etwas bewirken.»
Eltern, die unterstützen, wenn es heraufordernd wird, die klar und liebevoll führen und verlässliche Konsequenzen durchsetzen.
Wir brauchen Jugendliche, die gestalten, nicht nur konsumieren.
Die heutige Zeit fordert neue Fähigkeiten. Selbstwahrnehmung, Verantwortungsbewusstsein ersetzen den blinden Gehorsam und das angepasste Funktionieren.
Liebe soll in Beziehung wirken, in Begegnung und in der Mitgestaltung.
Der Blick auf zeitgemässe Erziehung:
Die Entwicklung soll meiner Meinung nach niemals rückwärts zur alten Härte führen. Doch weiter in Ohnmacht und Vermeidung zu fallen, bringt auch niemanden weiter.
Die neue Haltung verbindet:
Wärme mit Klarheit
Empathie mit Konsequenz
Zutrauen mit ZumutungWenn wir Jugendlichen zeigen: «Ich sehe dich und ich glaube an dich»,
dann kann sich in ihnen etwas aufrichten. Sie kommen in Bewegung und spüren:
«Ich bin geliebt, ich werde gebraucht und ich bin geschätzt.»